Von der „Reinheit“ zur „Einheit“ – Geschlechterdilemma und Nationalsozialismus

Ein Bericht von der Buchpräsentation „Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps. Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie“ mit dem Autor Sebastian Winter an der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) am 4. November 2013.
Von Carina Klammer

Wer das erste Mal die SFU betritt würde sich vielleicht etwas anderes erwarten. Weniger Mäuse in den Gängen zum Beispiel. Und mehr Psychoanalyse in den Lehrplänen. Nichtsdestotrotz hat es die Arbeitsgruppe Kritische Sozialpsychologie mit ihrer Einladung von Sebastian Winter geschafft einige Interessierte anzulocken.
Winter hat sich im Rahmen seiner Dissertation den Geschlechter- und Sexualitätsentwürfen in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps (SK) gewidmet. Einer Zeitung die, obwohl sie in relativ hoher Auflage erschienen ist, doch relativ wenig beforscht wurde. Im Jahr 1939 umfasste ihre Auflage über eine Million Exemplare und sie avancierte zur zweitgrößten Wochenzeitung Deutschlands. Ihre Leser*innenschaft musste sich somit weitläufig über die SS-Mitglieder und deren Angehörigen erstreckt haben. Zudem wurde sie in Schaukästen öffentlich ausgehangen. „Die diversen Reklameanzeigen für Geschirr, Stoffe oder etwa Damenbekleidung lassen darauf schließen, dass die Zeitschrift auch von Frauen gelesen wurde“ leitet Winter seine Thematisierung der Geschlechterverhältnisse ein bevor wir einen Überblick über das Buch erhalten.
Methodisch wäre es schnell ein wenig öde geworden. In seiner Wohnung stapelten sich die Ausgaben des SK, aber „irgendwann hat man das Prinzip, dann wiederholt es sich nur mehr“. Das läge natürlich auch an der NS-Ideologie selbst, ihrem Ticketdenken und ihrer verarmten Sprache. Zum theoretischen Verhältnis von Volk, Geschlecht und Antisemitismus gäbe es hingegen noch einige Fragen. Dies spiegelt sich auch in dem satten Theorieteil wider, der ein Drittel des 441 seitigen Buches umfasst. „Die psychoanalytischen KlassikerInnen gingen zunächst alle von Spaltungen und Projektionen aus, die im Laufe der männlichen Subjektgenese entstanden“. Dies betrifft vor allem die Verdrängung weiblich konnotierter Anteile (verweiblichter Jude) sowie den Hass auf die väterliche Autorität (der patriarchale Jude). Unsichere Männlichkeiten würden in mangelnden Abgrenzungsprozessen zur Mutter gesehen (vgl. Grunberg) oder seien im Gegenteil zu hart ausgefallen, weshalb der Antisemitismus primär als Bestandteil des misogynen Männerbundes erschiene (vgl. Theweleit, Mitscherlich). Adorno und Horkheimer analysierten hypervirile Männlichkeit als Autonomie, die in ihrem Größenwahn in ihr Gegenteil umschlägt und sich in der Massenbindung auflöst. „Die Antisemitinnen sind hierbei durchgängig aus dem Blick geraten“ konstatiert Winter. „Auch finden neuere Arbeiten aus der feministisch-psychoanalytischen Forschung kaum Einzug in die Antisemitismusforschung.“ Dies beträfe auch die Relevanz der frühkindlichen Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsprozesses sowie den Stellenwert der Mutterrolle. Angesichts der androzentrischen Grundannahmen bliebe jedoch fraglich, welche projektiven Prozesse spezifisch für Frauen attraktiv waren. Bis heute bestünde die Annahme, dass Frauen primär aus Angst und Schwäche Hitler zugejubelt hätten, nicht jedoch aus eigener Überzeugung. Zudem zerfiel der Antisemitismus nicht in „zwei Hälften“. Texte, wie jenes des SK, waren für Männer und Frauen gedacht. Hinzu käme, dass mit Beginn des 20. Jh. auch die antisemitischen Darstellungen von Jüdinnen (wie etwa das Bild der „schönen Jüdin“) zunehmend verschwanden. So bleibt Winter zunächst bei dem Verweis auf bestehende Theorie-Lücken. Anhand des SK hätte sich jedoch gezeigt, dass Fragen wie: „Schwächte oder verschärfte sich die Geschlechterpolarität im Nationalsozialismus?“, „Wurden im Antisemitismus verdrängte Attribute des Weiblichen oder des Männlichen abgespalten?“, „War die Sexualmoral des NS regressiv oder permissiv?“ auf eine Problematisierung genau dieses „oder“ hinausliefen.

In Bezug auf die Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe des NS werde nach wie vor gerne übersehen, inwiefern sich diese nicht nur als Zuspitzung bestehender Vorstellungen und Ideale entwickelten, sondern auch als Versuch deren Spannungen aufzulösen. Die 68er-Bewegung sah ihre Kämpfe für sexuelle Befreiung noch in engem Zusammenhang mit den repressiven Nachwirkungen des Faschismus. Es stellt insofern eine besondere Ironie dar, dass besonders die 68er- und die Freikörperkultur-Bewegung trotz ihrer progressiven Intention wenig reflektierten, inwiefern sie auch von Körper- und Sexualitätsbildern geprägt wurden, die sich im NS etabliert hatten. Das Bild des sexualitätsfeindlichen NS entwickelte sich nicht nur aus einer Verallgemeinerung der Politik der „Rassenschande“, auch anhand des Bildes der NS-Frau als Mutter wurde angenommen, dass die Ideale der bürgerlichen Kleinfamilie im NS schlichtweg übernommen wurden. Die NS-Ideologie knüpfte aber weder bruchlos an die christliche Moral- und Verbotslehre, noch an die bürgerliche Sittsamkeit an.
Winter veranschaulicht dies anhand einer Doppelseite aus dem SK. Eine Seite trägt die Überschrift „Geschäft OHNE Scham“. Wir sehen verschiedene Bilder von spärlich bekleideten Varietétänzerinnen, u.a. Josephine Baker. Die andere Seite wurde mit „SCHÖN UND REIN“ betitelt und zeigt nackte Frauen inmitten von landschaftlicher Idylle. Das SK versuchte zu vermitteln: Prüde Moralapostel wären sie nicht, aber: Nacktheit wäre nicht gleich Nacktheit. Winter richtet sich an das Publikum: „Aber, warum sollen wir so sein wollen? Und nicht so?“, und zeigt auf die Tänzerinnen. Schmunzeln im Publikum. Ja, warum eigentlich? Erste Antworten: „Das eine ist künstlich, artifiziell, das andere in der Natur.“ Auch der antisemitische Gehalt der Darstellung wird schnell decodiert: An der Objektivierung der Frau wäre der geschäftemachende Jude schuldig. „Prüderie und die daraus resultierenden Lüsternheit wurden in engen Zusammenhang begriffen und jeweils verworfen“, fährt Winter fort. Vielmehr bräuchte es eine Aufklärung ohne „Moralgefasel“, die Sexualität als etwas „unschuldiges“, ganz „natürliches“ darzustellen habe. Winter vermerkt, dass ihn selbst überrascht hätte, wie häufig die Figur des „lüsternen Priesters“ im SK aufgegriffen wurde.

Der NS begriff sich selbst als umfassende Erneuerungsbewegung zur Wiederherstellung von „Gesamtheit“, „Reinheit“ und „Klarheit“. Dualismen, Zersplitterung und Ambivalenzen sollten sich wieder im „harmonischen Ganzen“ fügen: Der Gegensatz von Natur und Kultur, Körper und Geist sowie Subjekt und Objekt. So wird auch eine Vorstellung der Geschlechter im Sinne ihrer fundamentalen Verschiedenheit im NS verworfen. Analog dazu wurde auch die tradierte Aufspaltung der Frau in „Heilige“ und „Hure“ nicht mehr den Geschlechtern selbst, sondern ihrer Verjudung zugeschrieben. Somit wandte sich das SK vordergründig gegen die Verachtung des Weiblichen. Die „Kameradin“ solle neben den Männern stehen, nicht hinter diesen. Zwar blieb diese Vorstellung stets mit Mütterlichkeit verknüpft, aber der NS verschob zugleich die bürgerlichen Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit auf fundamentale Weise. Mütterlichkeit drückte in ihrem Kern nicht mehr die weibliche Passivität und das „Heimchen am Herd“ aus, sondern wurden zur aktiven „Muttermacht“. Eine Mütterlichkeit die über das Kind nicht mehr das Begehren zum (komplementären) Mann, sondern die eigenständige Liebe zum „Volk“ ausdrückte. Auch Fragen zu Ehe und Scheidungsrecht wurden im NS durchaus offen diskutiert. Für Frauen, die über ihre Sexualität für gewöhnlich das Deckmäntelchen der Liebe streifen mussten um Gefühle der Scham zu überwinden, stellte dies durchaus ein verändertes Identifikationsangebot dar.

Im SK zeige sich, dass es die Gräben des Geschlechterverhältnisses selbst sind, die den Bestrebungen der NS-Ideologie zutiefst widerstreben. Erotische und sexuelle Spannungen gelte es aufzulösen, die Zerstörung der Einheit durch den „Geschlechterkampf“ abzuwenden. Sexualität im NS wurde weder einfach freigesetzt, noch geleugnet oder verdrängt. Sie wurde desexualisiert. Zum natürlichen Akt verkommen und all ihrer Liebe, Leidenschaft und zwischenmenschlichen Erotik entleert wird sie zur „sauberen Sache“ und für den Erhalt der „Volksgemeinschaft“ funktionalisiert (vgl. auch Adorno, Horkheimer und Marcuse). In diesem Sinne könne von einer „Verleugnung der Differenz durch die Differenz“ gesprochen werden.
Vor allem der Wunsch nach Angleichung der „arischen“ Körper von Männern und Frauen – wie sie etwa in jenen Steinplastiken zum Ausdruck kam, die Männer und Frauen in ähnlicher Gestalt und Pose, kernig, nackt und Seite an Seite darstellten – führte NS-internen durchaus zu Kontroversen. Dies betraf auch die Körperpraxen selbst. Welche und wie viel sportliche „Ertüchtigung“ wäre für Frauen angemessen? Welche Mode gälte es zu pflegen? Vertrauter Gretchenzopf oder gar Bubikopf? Vor allem in der SS wurde die Einheit der Geschlechter gesucht, indem ihre Polarität aufrechterhalten, ihre Segregation jedoch äußerst kritisch betrachtet wurde. Das SK wandte sich so beispielsweise gegen andere NS-Organisationen und Schriften, die allzu überschwänglich dem Männerbund frönten. „Übertriebene Kameradschaft“ wurde vor allem für die Jugend als Einfallstor für „entartete“ Homosexualität betrachtet. Gleichzeitig argwöhnte der SK ebenso gegen die völkische Frauenbewegung und bekrittelte ihr Auftreten (wie bspw. das stramme und strenge marschieren im Bataillon) als widernatürlich. Dort, wo die Balance bzw. die Harmonie der Geschlechter ins Wanken zu geraten schien, wurde von ihrer Verjudung gesprochen. Nicht die jeweiligen verdrängten Anteile der Geschlechterdifferenz, sondern die Ambivalenzen der Geschlechterpolarität selbst wurden in den Schriften des SK auf die Jüdinnen und Juden projiziert, fasst Winter abschließend zusammen.
In der Diskussion hakt eine Studentin noch einmal zum Frauenbild des NS nach. Dieses hätte den konkreten Erfahrungen von Frauen aber doch auch grundlegend widersprochen. Vergewaltigungen durch SS-Männer wären geradezu alltägliche Praxis geworden und Frauen blieben aus Machtpositionen ausgeschlossen. Winter nickt zustimmend. „Aber gerade weil die NS-Ideologie und ihre Einheits-Ideale im Widerspruch zu ihrer Wirklichkeit standen, spitzte sich die Projektion als Verarbeitung dieser Gegensätze immer weiter zu.“

Nach dem Vortrag wird noch über dieses und jenes geplaudert. Die Diskussion wäre nicht so sophisticated gewesen, wie Winter erwartet hätte. Das Fachpublikum war zu diesem Thema tatsächlich spärlich erschienen und der Raum überwiegend mit Studierenden gefüllt. Später beginnen sich die Gespräche langsam zu verlaufen wie die Mäuse, die für ein letztes Schmunzeln sorgen. Die Uhr an der Wand im Klappzahlen-Design wäre schon vor Jahren stehengeblieben und der Umzug in ein neues Gebäude sei schon länger beschlossene Sache. Der Wunsch, eine Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus am zukünftigen Institutsgebäude der Sigmund Freud Universität anzubringen, solle jedoch noch für Kontroversen sorgen…

Sebastian Winter
Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps. Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie. Psychosozial-Verlag, 2013, 441 Seiten, € 49,90