Bernhard Weidinger

Der Suhrkamp-Verlag hat jüngst einen bislang nur auf Tonträger vorgelegenen Adorno-Vortrag aus 1967 veröffentlicht. Er enthält wenig, das Adorno nicht anderswo schon gesagt oder geschrieben hätte. Zitabel ist er trotzdem.

Sie kennen das: Sie sitzen an der Proseminararbeit aus Politikwissenschaft, dem kulturkritischen Essay für die Wochenendbeilage oder dem längst überfälligen Eintrag für ihren antifaschistischen Blog, oder befinden sich auf einer Studierendenparty in einem angeregten Gespräch über die triste Lage der Welt. Plötzlich dämmert Ihnen siedendheiß, dass sie schon seit 3000 Zeichen oder 15 Minuten kein Adorno-Zitat mehr gedroppt haben – und die drei oder vier, die Sie kennen, erscheinen Ihnen so ausgelutscht, dass sie nur mehr Augenrollen zu ernten geeignet sind anstelle des eigentlich angestrebten, anerkennenden Kopfnickens.

58737Hier schafft der Suhrkamp-Verlag nun Abhilfe: „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ lautet der Titel der von Adorno 1967 im Neuen Institutsgebäude in Wien (also jenem Ort, an dem manche von Ihnen Ihre Proseminararbeiten einzureichen pflegen) abgestatteten Wortspende. Es handelt sich dabei gleichzeitig um einen Vorabdruck aus einem im Herbst erscheinenden Sammelband von Adorno-Vorträgen. Das Bändchen hat gleich mehrere Vorteile: es ist angesichts seines dünnen Umfangs in Windeseile gelesen, für Adorno-Verhältnisse – dem gesprochenen Wort sei Dank – locker-flockig formuliert und bietet vom Großmeister der Kritischen Theorie anderswo schon entwickelte Gedanken in teils neuer (im Sinne von: so noch nicht gelesener) Formulierung. Der perfekte Fundus also, um mit wenig Aufwand das Arsenal an Adornismen aufzufrischen. Für jene, die selbst diesen Aufwand scheuen, ist die nachfolgende, sanft kommentierte Auswahl gedacht, bei welcher besonderer Wert auf hohe Alltagstauglichkeit gelegt wurde.


  • Wenn Sie in einer Buzzword-Bingo-Session gefangen sind und jemand „Digitalisierung“ sagt (was fraglos passieren wird), so replizieren Sie:

„Die Technologie mag neu sein, der Prozess samt seiner gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Implikationen ist es nicht. Hat doch Adorno schon 1967 ‚das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit‘ benannt, das damals bereits unter dem Schlagwort der ‚Automatisierung‘ umging. Die Konsequenz ist diesselbe, nämlich dass ‚die Menschen, die im Produktionsprozeß drinstehen, sich bereits als potentiell überflüssig […], sich als potentielle Arbeitslose eigentlich fühlen.‘” (Adorno 2019, S. 11f.; kursive Textstellen unter einfachen Anführungszeichen markieren Zitate aus Adornos Vortrag)

  • Wenn jemand Unverständnis darüber äußert, dass ausgerechnet in einer globalisierten Welt und der fortgeschrittenen europäischen Integration der Nationalismus wieder seine hässliche Fratze reckt – das sei doch paradox! –, so reagieren sie souverän:

Tatsächlich hat ‚der neue Nationalismus oder Rechtsradikalismus […] angesichts der Gruppierung der Welt heute […] etwas Fiktives. Es glaubt eigentlich niemand mehr so ganz daran. Die einzelne Nation ist in ihrer Bewegungsfreiheit […] außerordentlich beschränkt.‘ Die nationalistische Reaktion muss nicht wunder nehmen, ist es doch ’sehr oft so, daß Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen.‘ (S. 13) ‚Ähnliches dürfte es mit dem, wenn ich es so nennen darf, „pathischen“ Nationalismus heute auch auf sich haben.‘ (S. 14)

  • Wenn Ihnen jemand einreden will, Rechtsextremismus sei eben eine „pathologische Normalität“ liberaler Demokratien und vielmehr Beleg für deren Funktionieren als für das Gegenteil, so kontern Sie ebenso respektvoll wie treffsicher:

Der empirische Gehalt Ihrer Aussage ist zu bejahen – doch gleichzeitig, bei aller Wertschätzung, steckt doch ‚darin so ein gewisses quietistisch bürgerlich Tröstendes, wenn man sich das so vorsagt.‘ Ja, das von Ihnen benannte Phänomen existiert allenthalben – ‚aber doch nur als Ausdruck dessen, daß dem Inhalt nach, dem gesellschaftlich-ökonomischen Inhalt nach, die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern formal geblieben ist. Und die faschistischen Bewegungen konnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.‘” (S. 17f.)

  • Wenn eine Erörterung des Katastrophischen als Merkmal rechter bis rechtsextremer Diskurse sich bereits erschöpft zu haben scheint, sind Sie noch lange nicht fertig:

Dass Rechte ständig den Untergang von allem beschwören, das wahr, gut und schön ist, und sich gleichzeitig als jene inszenieren, die allein im Stande wären, eben diese Entwicklung aufzuhalten, ist trivial. Der entscheidende Punkt ist doch, dass sie ‚in gewisser Weise die Katastrophe wollen, daß sie von Weltuntergangsphantasien sich nähren‘. (S. 19f.) Psychoanalytisch gesprochen, appellieren sie ‚an den unbewußten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe‘. Und weil ich den Widerspruch schon aus Ihren, von Ressentiment gegen die Psychoanalyse triefenden Augen ablesen kann: ja, dieser Wunsch hat, neben der psychologischen Komponente, auch eine ‚objektive Basis‘. Denn ‚[w]er nichts vor sich sieht und wer die Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht will, […] der will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur eben dann nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen.‘” (S. 20)

  • Wenn jemand wieder einmal mit der „Erkenntnis“ langweilt, dass man eines der FPÖ schon lassen müsse: in ihrer Nutzung der neuen sozialen Medien sei sie allen anderen weit voraus, bringen Sie mit nachfolgendem Zitat etwas gesellschaftstheoretischen Tiefgang in die Runde:

Tatsächlich beruht der Erfolg der Freiheitlichen nicht zuletzt auf einer ‚außerordentliche[n] Perfektion der Mittel, nämlich in erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinn‘ – freilich ‚kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt werden.‘ Und ebenjene Gleichzeitigkeit atmet letztlich den Geist der ‚zivilisatorischen Gesamttendenz, die ja überhaupt auf eine solche Perfektion der Techniken und Mittel hinausläuft, während der gesamtgesellschaftliche Zweck dabei eigentlich unter den Tisch fällt.‘” (S. 23)

  • Wenn Ihnen jemand eine Petition zuleitet, die gegen den rassistischen Normalzustand und seine ExekutorInnen in Regierungsverantwortung mehr „Menschlichkeit“ in Stellung bringen will (oder Sie auf den Donnerstagsdemos gegen Schwarz-Blau III ab Jänner 2020 entsprechender Schilder ansichtig werden), geben Sie mit Adorno die Spielverderberin:

„‘Man soll nicht in erster Linie mit ethischen Appellen, mit Appellen an die Humanität operieren, denn das Wort ‚Humanität‘ selber und alles, was damit zusammenhängt, bringt ja die Menschen, um die es sich handelt, zum Weißglühen, wirkt wie Angst und Schwäche, etwa ähnlich so, wie in bestimmten Vorgängen, die mir bekannt sind, die Erwähnung von Auschwitz zu Rufen wie ‚Hoch Auschwitz‘ geführt hat und die bloße Erwähnung jüdischer Namen bereits zum Gelächter.‘” (S. 27f.)

Dazu eine kleine Fußnote: Adorno spielt hier auf Ereignisse an, die sich wenige Jahre zuvor in Wien zugetragen hatten. Der Mann, der durch die Erwähnung jüdischer Namen in seinen Vorlesungen verlässlich Gelächter geerntet hatte, war Taras Borodajkewycz (Hochschule für Welthandel, heutige WU). „Hoch Auschwitz“ war eine Parole der Alt- und Neonazis gewesen, die sich den antifaschistischen Demonstrationen gegen Borodajkewycz entgegenstellten.

  • Wenn Sie nach Ihrer Intervention über die Sinnlosigkeit von Humanitätsappellen vor die Frage gestellt werden, wie denn sonst der Herausforderung von rechts zu begegnen sei, können Sie es hiermit versuchen:

„‘[D]as einzige, was mir nun wirklich etwas zu versprechen scheint, ist, daß man die potentiellen Anhänger des Rechtsradikalismus warnt vor dessen eigenen Konsequenzen, daß man ihnen klar macht eben, daß diese Politik auch seine eigenen Anhänger unweigerlich ins Unheil führt und daß dieses Unheil von vornherein mitgedacht worden ist […]. Also man muß, wenn man gegen diese Dinge im Ernst angehen will, auf die drastischen Interessen derer verweisen, an die sich die Propaganda wendet.‘” (S. 28)

  • Selbst, wenn Ihr Gegenüber sich dadurch nicht überzeugen lässt und empirische Belege für die Sinnhaftigkeit der von Ihnen ins Spiel gebrachten Strategie fordert, sind Sie vorbereitet (wobei es sich empfiehlt, die Entstehungszeit ihrer empirischen Referenz zu verschweigen):

Es hat sich in den Studien zur autoritären Persönlichkeit gezeigt, ‚daß auch die vorurteilsvollen Persönlichkeiten, die also durchaus autoritär, repressiv, politisch und ökonomisch reaktionär gewesen sind, an der Stelle, wo es sich um ihre eigenen durchsichtigen, für sie selbst durchsichtigen Interessen gehandelt hat, ganz anderes reagieren‘ undsich relativ rational verhalten.‘” (S. 52)

  • Wenn Sie Ihrer Abscheu gegen Gabalier Ausdruck verleihen und Ihr Gegenüber entgegenhält, dass man diesem Trachtenzombie doch bitte nicht soviel Aufmerksamkeit widmen sollte – es gäbe ja nun wirklich politisch relevantere Teilphänomene des allgemeinen Rechtsrucks –, entgegnen Sie, dass

auch unter dem Gesichtspunkt der Politik die Symptome der Kulturreaktion und der angedrehten Provinzialisierung mit besonderer Wachsamkeit beobachtet werden müssen, weil das, einfach weil die außenpolitische Bewegungsfreiheit diesen Bewegungen abgeht, der Bereich ist, in dem sie am meisten sich austoben können und sicherlich versuchen und noch mehr versuchen werden, sich auszutoben.‘” (S. 30)

  • Wenn jemand „Silberstein!“ sagt / Wenn Sie eine beliebige Presseaussendung oder Wortmeldung aus dem Kreis der Neuen Volkspartei vor sich haben, versetzen Sie wissend:

[N]och das Tabu über der Erwähnung der Juden wird zu einem Mittel der antisemitischen Agitation, nämlich so mit diesem Augenzwinkernden: ‚Wir dürfen ja nichts darüber sagen, aber wir verstehen uns unter uns. Wir alle wissen, was wir meinen.‘ Und die bloße Erwähnung etwa eines jüdischen Namens genügt dieser Technik der Anspielung bereits, um bestimmte Effekte hervorzurufen.‘” (S. 35)

  • Wenn Ihnen jemand weismachen will, dass die von rechtsaußen ständig erhobene Forderung nach „mehr (direkter) Demokratie“ wohl doch Zeugnis davon ablege, dass diese Gruppierungen ihre Frontstellung gegen die Demokratie aufgegeben hätten, erinnern Sie daran, dass

„‘diese Ideologie durch die Gesetzgebung an ihrer vollen Äußerung verhindert [ist]. […] [D]er Zwang zur Anpassung an demokratische Spielregeln bedeutet auch eine gewisse Änderung in den Verhaltensweisen, und insofern liegt darin doch auch ein Moment […] der Gebrochenheit, die diese Bewegungen im Stadium ihres Revenanttums nun einmal haben. Das offen Antidemokratische fällt weg. Im Gegenteil: Man beruft sich immer auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch.‘” (S. 37)

  • Wenn Ihnen jemand einen Kommentar zu Ibiza abringen will, obwohl dazu doch nun wirklich schon alles gesagt ist (und zwar von jedem), ziehen Sie sich mit Adorno in Tweetlänge aus der Affäre:

Am Ende des Tages haben Strache und Gudenus eindrucksvoll das wenig (mir aber durchaus) bekannte Diktum von Adorno über den Rechtsextremismus bestätigt: ‚ich halte das Ideologische gegenüber dem politischen Willen dranzukommen wirklich für ganz sekundär‘.” (S. 37)

  • Wenn Sie beim Zeitungsstudium im Café das aberhundertste Erklärstück über die vermeintlich so „neuen“ Rechten lesen, seufzen Sie gequält, nehmen einen Schluck aus der Espressotasse und murmeln, für den Nachbar*innentisch gerade noch hörbar:

„‘Es ist erstaunlich, wenn man die Dokumente liest, wie wenig zu dem alten Repertoire an Neuem hinzugekommen ist, wie sekundär und aufgewärmt es ist.‘” (S. 37)

–  Womit Sie sowohl die Geisteswelt von „Identitären“ & Co., als auch das Gros der journalistischen Erzeugnisse über ebenjene treffend charakterisiert hätten.

  • Wenn Ihnen jemand erklärt, Herbert Kickl sei zwar politisch unverträglich, aber sein polit-kommunikatorisches Genie müsse man wohl neidlos anerkennen, werfen Sie relativierend ein, dass es sich bei dem Repertoire des vermeintlich Genius doch

„‘um eine relativ kleine Zahl immer wiederkehrender standardisierter und vollkommen vergegenständlichter Tricks handelt, die ganz arm und dünn sind, die aber auf der anderen Seite gerade durch ihre permanente Wiederholung ihrerseits einen gewissen propagandistischen Wert für diese Bewegungen gewinnen.‘” (S. 43f.)

  • Wenn man daraufhin von Ihnen wissen will, wie diesen Tricks denn zu begegnen sei, haben Sie dank Onkel Teddy auch darauf eine Antwort parat:

Man sollte sie ‚dingfest machen, ihnen sehr drastische Namen geben, sie genau beschreiben, ihre Implikationen beschreiben und gewissermaßen versuchen, dadurch die Massen gegen diese Tricks zu impfen, denn schließlich will niemand ein Dummer sein, oder, wie man in Wien sagt, niemand will die ‚Wurzen‘ sein. Und daß das Ganze auf eine gigantische psychologische Wurztechnik, auf einen gigantischen psychologischen Nepp herausläuft, das ist wohl durchaus zu zeigen.‘” (S. 54)

  • Wenn Ihnen jemand einbläuen will, dass die Linke viel zu lange einen Bogen um die Themen Islam, Einwanderung und Integration gemacht habe und den Erfolgslauf der Rechten nie eindämmen werde können, solange sie sich den Sorgen und Ängsten der Autochthonen über die entstehenden Parallelgesellschaften nicht offensiv zuwende, erinnern Sie daran, dass

„‘dieser ganze Komplex der autoritätsgebundenen Persönlichkeit und der rechtsradikalen Ideologie in Wirklichkeit seine Substanz gar nicht an den designierten Feinden hat, gar nicht an denen hat, gegen die man dabei tobt, sondern daß es sich dabei um projektive Momente handelt, also daß die eigentlichen Subjekte einer Studie, die, die man zu begreifen und zu verändern hätte, die Rechtsradikalen sind und nicht die, gegen die sie ihren Haß mobilisiert haben.‘” (S. 52f.)

  • Wenn jemand – vermutlich derselbe Mensch wie eben – fordert, die Linke müsse selbst populistischer werden, mit denselben Mechanismen operieren wie das politische Gegenüber, eröffnen sie gönnerhaft:

Fürwahr, man muss dem Rechtsextremismus, ‚abgesehen vom politischen Kampf mit rein politischen Mitteln, in seiner eigensten Domäne‘ – jener der Propaganda nämlich – ’sich stellen. Aber nun nicht Lüge gegen Lüge setzen, nicht versuchen, genauso schlau zu sein wie er, sondern nun wirklich mit einer durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegenarbeiten.’” (S. 54f.)

  • Wenn Ihnen schlussendlich jemand mitteilt – und wenn Sie die vorliegende Handreichung fleißig zum Einsatz bringen, ist das nur eine Frage der Zeit –, Sie mögen bitte nicht ständig so obergescheit daherreden und überdies nicht alle zwei Sätze Adorno zitieren, haben Sie hiermit einen garantierten Winner (der zwar das Gegenüber nicht befrieden, aber doch zumindest eine Weile zähneknirschend schweigen lassen wird):

Wie Adorno schon wusste: ‚vor allem solange man nicht offen antisemitisch sein kann und solange man auch nicht die Juden umbringen kann, weil das ja bereits geschehen ist, sind besonders verhaßt die Intellektuellen‘.” (S. 32)

Da Sie vermutlich auch dem einen oder der anderen Bewegungslinken über den Weg laufen werden, an denen Adorno-Referenzen grundsätzlich abprallen, da dieser doch – anders als Marcuse! – von seinem akademischen Elfenbeinturm aus soziale Bewegungen mit seinen kritischen Einwürfen gelähmt und ihnen eingeredet habe, es lasse sich ohnehin nichts machen, seien Ihnen abschließend noch die folgenden Worte an die Hand gegeben, die Adorno ganz am Schluss seines Wiener Vortrags sprach:

Die Frage, wie es mit dem Rechtsextremismus wohl weitergehe, sei ‚falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens, die solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturkatastrophen, über die man Voraussagen macht wie über Wirbelwinde oder über Wetterkatastrophen, da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet, es steckt darin ein schlecht zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie diese Dinge weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns.‘ (S. 55)

Das Buch: Theodor W. Adorno (2019 [1967]), Aspekte des neuen Rechtsradikalismus – Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiss. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Ein Bericht von der Buchpräsentation „Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps. Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie“ mit dem Autor Sebastian Winter an der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) am 4. November 2013.
Von Carina Klammer

Wer das erste Mal die SFU betritt würde sich vielleicht etwas anderes erwarten. Weniger Mäuse in den Gängen zum Beispiel. Und mehr Psychoanalyse in den Lehrplänen. Nichtsdestotrotz hat es die Arbeitsgruppe Kritische Sozialpsychologie mit ihrer Einladung von Sebastian Winter geschafft einige Interessierte anzulocken.
Winter hat sich im Rahmen seiner Dissertation den Geschlechter- und Sexualitätsentwürfen in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps (SK) gewidmet. Einer Zeitung die, obwohl sie in relativ hoher Auflage erschienen ist, doch relativ wenig beforscht wurde. Im Jahr 1939 umfasste ihre Auflage über eine Million Exemplare und sie avancierte zur zweitgrößten Wochenzeitung Deutschlands. Ihre Leser*innenschaft musste sich somit weitläufig über die SS-Mitglieder und deren Angehörigen erstreckt haben. Zudem wurde sie in Schaukästen öffentlich ausgehangen. „Die diversen Reklameanzeigen für Geschirr, Stoffe oder etwa Damenbekleidung lassen darauf schließen, dass die Zeitschrift auch von Frauen gelesen wurde“ leitet Winter seine Thematisierung der Geschlechterverhältnisse ein bevor wir einen Überblick über das Buch erhalten.
Methodisch wäre es schnell ein wenig öde geworden. In seiner Wohnung stapelten sich die Ausgaben des SK, aber „irgendwann hat man das Prinzip, dann wiederholt es sich nur mehr“. Das läge natürlich auch an der NS-Ideologie selbst, ihrem Ticketdenken und ihrer verarmten Sprache. Zum theoretischen Verhältnis von Volk, Geschlecht und Antisemitismus gäbe es hingegen noch einige Fragen. Dies spiegelt sich auch in dem satten Theorieteil wider, der ein Drittel des 441 seitigen Buches umfasst. „Die psychoanalytischen KlassikerInnen gingen zunächst alle von Spaltungen und Projektionen aus, die im Laufe der männlichen Subjektgenese entstanden“. Dies betrifft vor allem die Verdrängung weiblich konnotierter Anteile (verweiblichter Jude) sowie den Hass auf die väterliche Autorität (der patriarchale Jude). Unsichere Männlichkeiten würden in mangelnden Abgrenzungsprozessen zur Mutter gesehen (vgl. Grunberg) oder seien im Gegenteil zu hart ausgefallen, weshalb der Antisemitismus primär als Bestandteil des misogynen Männerbundes erschiene (vgl. Theweleit, Mitscherlich). Adorno und Horkheimer analysierten hypervirile Männlichkeit als Autonomie, die in ihrem Größenwahn in ihr Gegenteil umschlägt und sich in der Massenbindung auflöst. „Die Antisemitinnen sind hierbei durchgängig aus dem Blick geraten“ konstatiert Winter. „Auch finden neuere Arbeiten aus der feministisch-psychoanalytischen Forschung kaum Einzug in die Antisemitismusforschung.“ Dies beträfe auch die Relevanz der frühkindlichen Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsprozesses sowie den Stellenwert der Mutterrolle. Angesichts der androzentrischen Grundannahmen bliebe jedoch fraglich, welche projektiven Prozesse spezifisch für Frauen attraktiv waren. Bis heute bestünde die Annahme, dass Frauen primär aus Angst und Schwäche Hitler zugejubelt hätten, nicht jedoch aus eigener Überzeugung. Zudem zerfiel der Antisemitismus nicht in „zwei Hälften“. Texte, wie jenes des SK, waren für Männer und Frauen gedacht. Hinzu käme, dass mit Beginn des 20. Jh. auch die antisemitischen Darstellungen von Jüdinnen (wie etwa das Bild der „schönen Jüdin“) zunehmend verschwanden. So bleibt Winter zunächst bei dem Verweis auf bestehende Theorie-Lücken. Anhand des SK hätte sich jedoch gezeigt, dass Fragen wie: „Schwächte oder verschärfte sich die Geschlechterpolarität im Nationalsozialismus?“, „Wurden im Antisemitismus verdrängte Attribute des Weiblichen oder des Männlichen abgespalten?“, „War die Sexualmoral des NS regressiv oder permissiv?“ auf eine Problematisierung genau dieses „oder“ hinausliefen.

In Bezug auf die Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe des NS werde nach wie vor gerne übersehen, inwiefern sich diese nicht nur als Zuspitzung bestehender Vorstellungen und Ideale entwickelten, sondern auch als Versuch deren Spannungen aufzulösen. Die 68er-Bewegung sah ihre Kämpfe für sexuelle Befreiung noch in engem Zusammenhang mit den repressiven Nachwirkungen des Faschismus. Es stellt insofern eine besondere Ironie dar, dass besonders die 68er- und die Freikörperkultur-Bewegung trotz ihrer progressiven Intention wenig reflektierten, inwiefern sie auch von Körper- und Sexualitätsbildern geprägt wurden, die sich im NS etabliert hatten. Das Bild des sexualitätsfeindlichen NS entwickelte sich nicht nur aus einer Verallgemeinerung der Politik der „Rassenschande“, auch anhand des Bildes der NS-Frau als Mutter wurde angenommen, dass die Ideale der bürgerlichen Kleinfamilie im NS schlichtweg übernommen wurden. Die NS-Ideologie knüpfte aber weder bruchlos an die christliche Moral- und Verbotslehre, noch an die bürgerliche Sittsamkeit an.
Winter veranschaulicht dies anhand einer Doppelseite aus dem SK. Eine Seite trägt die Überschrift „Geschäft OHNE Scham“. Wir sehen verschiedene Bilder von spärlich bekleideten Varietétänzerinnen, u.a. Josephine Baker. Die andere Seite wurde mit „SCHÖN UND REIN“ betitelt und zeigt nackte Frauen inmitten von landschaftlicher Idylle. Das SK versuchte zu vermitteln: Prüde Moralapostel wären sie nicht, aber: Nacktheit wäre nicht gleich Nacktheit. Winter richtet sich an das Publikum: „Aber, warum sollen wir so sein wollen? Und nicht so?“, und zeigt auf die Tänzerinnen. Schmunzeln im Publikum. Ja, warum eigentlich? Erste Antworten: „Das eine ist künstlich, artifiziell, das andere in der Natur.“ Auch der antisemitische Gehalt der Darstellung wird schnell decodiert: An der Objektivierung der Frau wäre der geschäftemachende Jude schuldig. „Prüderie und die daraus resultierenden Lüsternheit wurden in engen Zusammenhang begriffen und jeweils verworfen“, fährt Winter fort. Vielmehr bräuchte es eine Aufklärung ohne „Moralgefasel“, die Sexualität als etwas „unschuldiges“, ganz „natürliches“ darzustellen habe. Winter vermerkt, dass ihn selbst überrascht hätte, wie häufig die Figur des „lüsternen Priesters“ im SK aufgegriffen wurde.

Der NS begriff sich selbst als umfassende Erneuerungsbewegung zur Wiederherstellung von „Gesamtheit“, „Reinheit“ und „Klarheit“. Dualismen, Zersplitterung und Ambivalenzen sollten sich wieder im „harmonischen Ganzen“ fügen: Der Gegensatz von Natur und Kultur, Körper und Geist sowie Subjekt und Objekt. So wird auch eine Vorstellung der Geschlechter im Sinne ihrer fundamentalen Verschiedenheit im NS verworfen. Analog dazu wurde auch die tradierte Aufspaltung der Frau in „Heilige“ und „Hure“ nicht mehr den Geschlechtern selbst, sondern ihrer Verjudung zugeschrieben. Somit wandte sich das SK vordergründig gegen die Verachtung des Weiblichen. Die „Kameradin“ solle neben den Männern stehen, nicht hinter diesen. Zwar blieb diese Vorstellung stets mit Mütterlichkeit verknüpft, aber der NS verschob zugleich die bürgerlichen Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit auf fundamentale Weise. Mütterlichkeit drückte in ihrem Kern nicht mehr die weibliche Passivität und das „Heimchen am Herd“ aus, sondern wurden zur aktiven „Muttermacht“. Eine Mütterlichkeit die über das Kind nicht mehr das Begehren zum (komplementären) Mann, sondern die eigenständige Liebe zum „Volk“ ausdrückte. Auch Fragen zu Ehe und Scheidungsrecht wurden im NS durchaus offen diskutiert. Für Frauen, die über ihre Sexualität für gewöhnlich das Deckmäntelchen der Liebe streifen mussten um Gefühle der Scham zu überwinden, stellte dies durchaus ein verändertes Identifikationsangebot dar.

Im SK zeige sich, dass es die Gräben des Geschlechterverhältnisses selbst sind, die den Bestrebungen der NS-Ideologie zutiefst widerstreben. Erotische und sexuelle Spannungen gelte es aufzulösen, die Zerstörung der Einheit durch den „Geschlechterkampf“ abzuwenden. Sexualität im NS wurde weder einfach freigesetzt, noch geleugnet oder verdrängt. Sie wurde desexualisiert. Zum natürlichen Akt verkommen und all ihrer Liebe, Leidenschaft und zwischenmenschlichen Erotik entleert wird sie zur „sauberen Sache“ und für den Erhalt der „Volksgemeinschaft“ funktionalisiert (vgl. auch Adorno, Horkheimer und Marcuse). In diesem Sinne könne von einer „Verleugnung der Differenz durch die Differenz“ gesprochen werden.
Vor allem der Wunsch nach Angleichung der „arischen“ Körper von Männern und Frauen – wie sie etwa in jenen Steinplastiken zum Ausdruck kam, die Männer und Frauen in ähnlicher Gestalt und Pose, kernig, nackt und Seite an Seite darstellten – führte NS-internen durchaus zu Kontroversen. Dies betraf auch die Körperpraxen selbst. Welche und wie viel sportliche „Ertüchtigung“ wäre für Frauen angemessen? Welche Mode gälte es zu pflegen? Vertrauter Gretchenzopf oder gar Bubikopf? Vor allem in der SS wurde die Einheit der Geschlechter gesucht, indem ihre Polarität aufrechterhalten, ihre Segregation jedoch äußerst kritisch betrachtet wurde. Das SK wandte sich so beispielsweise gegen andere NS-Organisationen und Schriften, die allzu überschwänglich dem Männerbund frönten. „Übertriebene Kameradschaft“ wurde vor allem für die Jugend als Einfallstor für „entartete“ Homosexualität betrachtet. Gleichzeitig argwöhnte der SK ebenso gegen die völkische Frauenbewegung und bekrittelte ihr Auftreten (wie bspw. das stramme und strenge marschieren im Bataillon) als widernatürlich. Dort, wo die Balance bzw. die Harmonie der Geschlechter ins Wanken zu geraten schien, wurde von ihrer Verjudung gesprochen. Nicht die jeweiligen verdrängten Anteile der Geschlechterdifferenz, sondern die Ambivalenzen der Geschlechterpolarität selbst wurden in den Schriften des SK auf die Jüdinnen und Juden projiziert, fasst Winter abschließend zusammen.
In der Diskussion hakt eine Studentin noch einmal zum Frauenbild des NS nach. Dieses hätte den konkreten Erfahrungen von Frauen aber doch auch grundlegend widersprochen. Vergewaltigungen durch SS-Männer wären geradezu alltägliche Praxis geworden und Frauen blieben aus Machtpositionen ausgeschlossen. Winter nickt zustimmend. „Aber gerade weil die NS-Ideologie und ihre Einheits-Ideale im Widerspruch zu ihrer Wirklichkeit standen, spitzte sich die Projektion als Verarbeitung dieser Gegensätze immer weiter zu.“

Nach dem Vortrag wird noch über dieses und jenes geplaudert. Die Diskussion wäre nicht so sophisticated gewesen, wie Winter erwartet hätte. Das Fachpublikum war zu diesem Thema tatsächlich spärlich erschienen und der Raum überwiegend mit Studierenden gefüllt. Später beginnen sich die Gespräche langsam zu verlaufen wie die Mäuse, die für ein letztes Schmunzeln sorgen. Die Uhr an der Wand im Klappzahlen-Design wäre schon vor Jahren stehengeblieben und der Umzug in ein neues Gebäude sei schon länger beschlossene Sache. Der Wunsch, eine Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus am zukünftigen Institutsgebäude der Sigmund Freud Universität anzubringen, solle jedoch noch für Kontroversen sorgen…

Sebastian Winter
Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps. Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie. Psychosozial-Verlag, 2013, 441 Seiten, € 49,90